Kaum eine Branche treffen die Corona-Beschränkungen so hart wie das Hotel- und Gaststättengewerbe. Nach Schätzungen des Branchenverbands DEHOGA haben bis zu 40.000 Betriebe eine sogenannte Betriebsschließungsversicherung abgeschlossen und darauf vertraut, hieraus einen Teil des Schadens decken zu können. Anders sieht dies aber ein Großteil der Versicherer, die Versicherungsleistungen ablehnen. Hier dürfte eine Klagewelle drohen, wenn die Versicherer nicht einlenken und eine großzügige Vergleichsbereitschaft zeigen.
Versicherungen sollen aus betriebswirtschaftlicher Sicht die finanziellen Folgen ungewisser einzelner Ereignisse durch das Prinzip des kollektiven Risikoausgleichs mildern. Die Ungewissheit ist zentrales Element des Versicherungsprinzips. Ist es also für den verständigen Versicherungsnehmer zu erwarten, dass nur Betriebsschließungen aufgrund bekannter Krankheitserreger Versicherungsschutz genießen?
Keine Frage: Eine derart weitreichende Auswirkung eines Krankheitserregers war nicht abzuschätzen. Durch behördlich angeordnete Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie mussten viele Betriebe schließen und haben erhebliche Umsatzeinbußen und wirtschaftliche Schäden zu verzeichnen. Manch einer wird sich guter Dinge an die abgeschlossene Betriebsschließungsversicherung erinnert haben. Doch ein Blick in die Versicherungsbedingungen wird vielfach für Überraschung gesorgt haben. Dort wird zwar auf Betriebsschließungen infolge des Infektionsschutzgesetzes Bezug genommen, aber es sind oftmals auch Krankheitserreger aufgenommen. SARS-CoV-2 fehlt hier. Selbstverständlich. Der Erreger war bei Vertragsschluss noch überhaupt nicht bekannt. Unter anderem darauf berufen sich nun viele Versicherer und verwehren Versicherungsleistungen.
Sie orientieren sich an der sog. „Bayerischen Lösung“, bieten danach Quoten von 15% der Versicherungsleistung an und erklären diesen Schritt damit, die Versicherten nicht im Stich lassen zu wollen. Ein Anspruch auf die Versicherungsleistung bestehe nicht. Doch so leicht ist es nicht.
Es handelt sich bei den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) zunächst um ein Paradebeispiel für die Anwendung juristischen Werkzeugs der Rechtshistorie – der Auslegung. Das wird kombiniert mit den Grundsätzen über die Wirksamkeit allgemeiner Geschäftsbedingungen, denn dazu zählen auch die AVB. Die Formulierungen sind so auszulegen, wie sie ein objektiver und verständiger Dritter in der Position des Versicherungsnehmers ohne vertiefte versicherungsrechtliche Kenntnisse verstehen durfte. Zweifel gehen zu Lasten der Versicherer, § 305c Abs. 2 BGB.
Die relevanten AVB nehmen häufig Bezug auf eine Betriebsschließung nach dem IfSG. Gerade eine Bezugnahme auf die §§ 6, 7 IfSG legt nahe, dass auch neue Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sind. Der Gesetzgeber hat keine enumerative Aufzählung von gefährlichen Krankheiten und Viren vorgenommen, sondern die Liste (bewusst) offen gehalten. Die Bedingungen müssen daher – auch bei Aufzählung der zum Vertragsschluss im IfSG aufgeführten Krankheitserreger – so gelesen werden, dass auch neu hinzutretende Erkrankungen des IfSG versichert sind. Mit einer seit 01.02.2020 geltenden Verordnung (CorViMV) sind Verdacht bzw. Erkrankung oder Tod in Bezug auf eine Infektion mit 2019-nCoV (SARS-CoV-2) meldepflichtig nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 des IfSG. Damit greift für die späteren Betriebsschließungen aus unserer Sicht in der Regel der Versicherungsschutz.
Doch das ist nicht der einzige Aspekt, der Zweifel an der Auffassung der Versicherer zulässt. Selbst wenn sich die Klausel nicht zugunsten der Versicherten auslegen ließe, müssten die AVB einer gesetzlichen Inhaltskontrolle standhalten. Naheliegend ist die Annahme einer überraschenden oder unangemessen benachteiligenden und damit unwirksamen Klausel zur Beschränkung, da der durchschnittliche Versicherungsnehmer doch annehmen wird, dass „neue Risiken“ – denn gerade diese sind häufig relevant – mitversichert sind. Grundlage des Versicherungsschutzes ist in den meisten Klauseln das IfSG und die Leistungserwartung des verständigen Versicherungsnehmers liegt in einer Absicherung sämtlicher Krankheitserreger, die im Zeitpunkt der Realisierung des Risikos im IfSG genannt werden. Jegliche beschränkenden AVB halten aus unserer Sicht regelmäßig jedenfalls der Kontrolle nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB (unangemessene Benachteiligung in Bezug auf den Vertragszweck) nicht Stand.
Das mag aus Sicht des Versicherers erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben. Doch sein eigenes Risiko kann er einerseits durch Höchstbeträge begrenzen, andererseits entspricht das dem Prinzip des kollektiven Risikoausgleichs.
Mit einem ersten Urteil zur Thematik vom 29.04.2020 (AZ: 11 O 66/20) hat das LG Mannheim entschieden, dass es sich bei den derzeitigen Maßnahmen um faktische, von der Versicherung erfasste Betriebsschließungen handelt und der Versicherungsvertrag nach dem „Maßstab eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse“ auszulegen ist. Wir halten diese Entscheidung für richtig und nachvollziehbar, allerdings sind damit bei weitem nicht alle Rechtsfragen geklärt. Auch in Frankreich ist die AXA bereits in einem Rechtsstreit um die Betriebsschließungsversicherung unterlegen. Aufgrund der „Europäisierung“ des AGB-Rechts lassen sich auch aus den Entscheidungen in europäischen Mitgliedsstaaten Aspekte für die Behandlung im deutschen Rechtsraum ziehen.
Die Entwicklung der Rechtssprechung zu diesem Thema wird sicherlich spannend bleiben. Wir empfehlen jedenfalls, Angebote der Versicherer nicht vorschnell anzunehmen und sich vor einer Entscheidung auf Grundlage der konkreten AVB dazu beraten zu lassen.